Kreuvfs Allerweltsblog

2012-06-24

Das +dx-Phänomen

Abgelegt unter Psychologie von Kreuvf um 19:49:42

Wenn eine hinreichend große Menge Menschen an einem Ort versammelt ist, erlangen massenpsychologische Phänomene Bedeutung. Massenpaniken, bei denen ohne Sinn und Verstand jeder einfach nur wild durch die Gegend rennt, sind ein solches Phänomen. Jeder, der von der Panik erfasst wird, will nur noch möglichst weit weg, ohne dabei auf die Menschen zu achten, die gestürzt sind und versuchen aufzustehen. Letzten Endes werden viele der Gestürzten von allen anderen zu Tode getrampelt. Ich möchte an dieser Stelle von einem massenpsychologischen Phänomen berichten, das mir quasi täglich auffällt. Die Beschränkung auf einen gemeinsamen Ort, an dem alle versammelt sind, besteht allerdings für dieses nicht immer.

Vorweg möchte ich sagen, dass ich keinerlei Recherche zu diesem Thema unternommen habe und meine Gedanken daher von etwaiger Fachliteratur unbeeinflusst aufschreibe. Falls das da draußen jemand mit entsprechendem Sachverstand liest, würde ich mich über Kommentare dazu sehr freuen. Insbesondere in wie weit derartige Ideen bereits untersucht wurden.

Der Kern: Aufsummierung kleiner Veränderungen

Am häufigsten konnte ich das „+dx-Phänomen“ in der Schule beobachten. Hin und wieder kam es vor, dass der Lehrer den Unterrichtsraum verlassen musste, um zum Beispiel etwas zu kopieren. In der Regel ermahnt der Lehrer die gesamte Klasse ruhig zu bleiben, solange der Lehrer nicht im Raum ist. Damit das auch so bleibt, gab es irgendeine Aufgabe in der Zeit zu tun. Je nach Klassenzusammensetzung, Konzentrationsfähigkeit und Aufgabenstellung dauerte es aber nicht allzu lang, bis quasi jeder mit dem Nachbarn quatschte, Leute quer durch den Raum liefen, um in größeren Gruppen zu reden oder Karten zu spielen. Wie konnte es dazu kommen? Die Anweisungen des Lehrers waren doch eindeutig und eine ruhige Klasse war das dann auf gar keinen Fall mehr. Wieso hat das niemand gemerkt? Oder, wenn die Schüler es merken, wieso hat dann trotzdem niemand etwas gemacht?

Die Anhebung der Lautstärke im Raum und damit der Beginn der Eskalation sind immer einzelne, die entgegen der eindeutigen Anweisungen des Lehrers statt Stillarbeit dem Nachbarn nur kurz was sagen müssen. Ob bewusst oder unbewusst, merken das dann alle anderen im Raum. Darunter auch die, die ihrem Nachbarn auch gerne etwas gesagt hätten, aber sich aufgrund des Verbots nicht getraut haben. Der einzelne Regelverstoß bleibt aber ungestraft und das ist, was bei allen anderen ankommt. Damit sinkt automatisch die Dringlichkeitsgrenze, ab der das Verbot umgangen wird. Und prompt fangen daher weitere Schüler an mit ihrem Nachbarn zu reden.

Da nicht jeder gleich leise spricht, wird einer aus dieser „zweiten Welle“ etwas lauter sprechen und je mehr Leute gleichzeitig im selben Raum miteinander reden, desto schwieriger kann es sein den Gegenüber zu verstehen, weshalb in den nachfolgenden „Wellen“ rasch sehr viel lauter gesprochen wird. Das geht so lange, bis der erste das Tabu bricht und nicht mehr flüstert, sondern ganz normal redet. Spätestens an diesem Punkt ist mindestens die halbe Klasse in Privatgespräche vertieft. Ab diesem Punkt steigt der Lärmpegel schnell – exponentiell –  an und durch das plötzliche Einsetzen der hohen Lautstärke werden selbst die, die sich dem +dx-Phänomen bislang erfolgreich entzogen haben, so sehr gestört, dass eine Weiterarbeit nicht mehr sinnvoll möglich ist. Also auch jene, die sich tatsächlich an die Vorgaben halten wollen, werden von der Masse in das Verhaltensmuster der Masse gedrängt. Die weiteren Dammbrüche wie Herumlaufen im Raum, um mit anderen zu reden, oder das Spielen von Karten können dann folgen. Artet die Lautstärke zu sehr aus, kommt auch schon mal die Lehrerin aus dem Nachbarzimmer und versucht für Ruhe zu sorgen.

Bei keinem der eben erwähnten Schritte findet eine Bestrafung des eigentlich unerwünschten Verhaltens statt und die Entgleisung kommt daher, dass das Damokles-Schwert der Bestrafung, das in Anwesenheit des Lehrers permanent über/in den Köpfen der Schüler schwebt, nicht vorhanden ist. Keiner der Schüler hat gewollt, dass die Situation entgleist und der Lärm so stark wird, dass die Lehrerin aus dem angrenzenden Unterrichtsraum schon nach dem Rechten sieht. Dennoch hat der Großteil der Klasse am Ende daran mitgewirkt. Wie konnte es aber dazu kommen?

Erklärungsansatz

Der erste Schüler ist der Schlüssel zu dem Ganzen. Ohne den ersten vom Großteil der Schüler bemerkbaren Regelverstoß ohne Sanktion würden sich die anderen Schüler nicht trauen mit dem Reden anzufangen. Solange nicht geredet wird, kann sich die Lautstärke auch nicht erhöhen. Der erste Schüler aber hat doch gar nicht so laut geredet? Er hat nur geflüstert und wollte doch gar niemanden wirklich stören. Wieso aber hat das dann dazu geführt, dass am Ende sogar die Lehrerin aus dem Nachbarzimmer nach dem Rechten sehen musste?

Der Grund ist, dass der Regelverstoß nicht geahndet wurde. Es ist daher für jene, die das mitbekommen haben, ein Signal mit der Bedeutung „Es ist in Ordnung so leise und kurz zu reden.“. Wie oben bereits angemerkt spricht nicht jeder gleich leise und gerade bei der Dauer ist die Frage, ab wann es zu lang ist. In der zweiten Welle wird diese Grenze daher schrittweise ausgeweitet. Die einen reden nur etwas, minimal, länger, die anderen reden ebenfalls etwas, minimal, lauter. Beide Wirkungen zusammen sorgen dann dafür, dass aus den vielen kleinen Schritten über einen etwas längeren Zeitraum große und immer größere Schritte werden. Daraus leite ich auch den Namen dieses Phänomens ab: +dx-Phänomen. Auch wenn das nichts mit der Differential- und Integralrechnung aus der Mathematik zu tun hat, so verhält sich das große Überschreiten der Ruhegrenze, die der Lehrer gesetzt hat, so wie die Integration nahezu unendlich kleiner Teile zwischen einem Graphen und der x-Achse: auch wenn die einzelnen Teile winzig sein mögen, so kann die Summe jedoch enorm sein. Jeder kleine Beitrag (dx) eines schwätzenden Schülers wird so aufsummiert und sorgt letzten Endes für einen extrem störenden Geräuschpegel.

Beispiel 1: Polizeigewalt

Es gibt genügend Beispiele von Polizeigewalt in Deutschland, Europa und auch im Rest der Welt. Die Frage, die sich in der Regel stellt, ist aber, wieso die fraglichen Polizisten so unglaublich brutal vorgehen? Es gibt Gesetze, die das erlaubte Vorgehen regeln. Wieso werden diese nicht eingehalten?

In einem hypothetischen Urzustand gab es ausschließlich Polizisten, die sich streng an die Vorschriften hielten. Einer jedoch gab dann während einer Festnahme dem Festgenommenen einen kleinen Klaps. Nichts, das vor einem Gericht als (versuchte) Körperverletzung durchgehen würde und auch keinerlei Folgen für alle Beteiligten hat. Aber etwas, das grundsätzlich nicht erlaubt ist. Nun bekommen das umstehende Polizisten natürlich mit und gerade jene, die „immer übertreiben müssen“ haben sich dann mal nicht so gut unter Kontrolle und hauen etwas stärker zu. Das Opfer hat bereits Schmerzen, aber keinerlei bleibende oder auch nur kurzfristig sichtbare Schäden wie etwa Hämatome. Das Opfer erstattet allerdings Anzeige, hat aufgrund der Rechtsprechung aber keinerlei Chance und bleibt letzten Endes auf den Kosten sitzen.

Das geht so immer weiter, bis ein „Brutalo-Bulle“ einen Einsatz leiten darf und durch die Blume ankündigt, dass härteres Vorgehen erlaubt wäre. So kommt man dann letzten Endes zu so unsäglichen Schweinen, die anderen Menschen auf Demonstrationen teils sogar noch aus heiterem Himmel mit Wasserwerfern die Augen rausschießen.

Den hypothetischen Urzustand gab es mit großer Sicherheit nie. Bestehende Polizisten werden immer in das bestehende System der Staatsgewalt hineingepresst, sodass sich die Zustände dort auch nur sehr langsam (über Generationen) ändern können.

Beispiel 2: Korruption

Streng genommen darf kein Beamter Geschenke annehmen, ohne dass sein Dienstherr davon vorher in Kenntnis gesetzt wurde und das erlaubt hat. Damit soll Bestechlichkeit eingeschränkt werden. In der Realität sieht das jedoch deutlich anders aus. Auch hier ist wieder die Frage, woher das kommt. Und auch hier läuft alles wieder darauf hinaus, dass diese absolute Grenze aufgeweicht wurde und es an klaren neuen Grenzen fehlt. Ist es okay, wenn die Studenten eines Professors diesem zu seinem Geburtstag Kuchen mitbringen? Darf ein Staatsanwalt zum Dank für eine gute Recherche einen Gutschein für einen Theaterbesuch mit seiner Frau annehmen?

Und so schaukelt sich das langsam, aber sicher hoch. Schon im Jugendgemeinderat Hockenheim hat man die Auswirkungen des +dx-Phänomens spüren können. Es war kurz vor Weihnachten und wir, die Mitglieder des Jugendgemeinderates, hatten vor alle zusammen essen zu gehen. Die für die Geschäftstätigkeiten des Jugendgemeinderates zur Verfügung gestellten 5.000 € sind natürlich selbstverständlich nicht dafür gedacht, dass sich die JGR-Mitglieder davon die Bäuche in der Hockenheimer Gastronomielandschaft vollschlagen. Dennoch kam diese Forderung prompt und letzten Endes kamen nur drei der zwölf gewählten Mitglieder des JGR Hockenheim und ein Externer. Was war hier also passiert? Mit dem Argument, dass „die da oben“ „das“, also Steuergelder verprassen, um sich einen schönen Abend zu machen, ja auch machten, wurde schon fast darauf bestanden, dass unser Budget mit einem Weihnachtsessen belastet wird. Das +dx-Phänomen war am Werk. Wenn die anderen sowas auch machen, dann dürfen wir das auch. Und die Sache ist sogar so, dass gar nicht feststehen muss, dass „die anderen“ das auch gemacht haben. Es reicht vollkommen aus auf dem Klischee des verschwenderischen Politikers aufzubauen und allen Gemeinderatsmitgliedern der Stadt Hockenheim pauschal vorzuwerfen auf Kosten der Steuerzahler essen zu gehen. Nur dadurch, dass mindestens ein Mitglied des JGR diese Meinung hatte und sich auch entsprechend positioniert hat, fiel es dann auch anderen Mitgliedern leichter dieselbe Position einzunehmen, da das Tabu etwas Illegales zu fordern bereits gebrochen war. Natürlich waren die meisten davon nicht um eine entsprechend abstruse Ausrede verlegen den Termin abzusagen.

Beispiel 3: Überwachungsgesetze

Ähnlich sieht es auch mit Gesetzen und Maßnahmen aus, deren Ziel eine weitreichendere Überwachung ist. Was jeder einzelne Politiker auf Bundes-, Landes- oder Kommunalebene macht, ist einzeln betrachtet nicht unbedingt viel. Aber durch die Gesamtheit der Maßnahmen und dadurch, dass frühere Entgleisungen Mut machen auch mal eine neue Entgleisung auszuprobieren, kommt es dazu, dass immer wieder und auch in immer schwachsinnigerem Zusammenhang – in China kippt ein Sack Reis um; reflexartig kommentiert der Innenminister dies mit: „Mit der Vorratsdatenspeicherung hätten wir das verhindern können!“ –  weitere Maßnahmen gefordert und durchgesetzt werden. Andere „Sicherheits“politiker schauen sich das natürlich ab und auch ohne Lobbyeinflüsse beginnt leicht eine Anpassung an das aktuelle Maximum: wenn der Lärmpegel im Klassenzimmer schon unerträglich laut ist, dann muss man eben brüllen, um gehört zu werden. In diesem Fall wäre aufgrund der immer geringeren Achtung vor den Grundrechten auch die Bezeichnung „−dx-Phänomen“ sinnvoll.

Beispiel 4: unsachgemäße Behandlung von Gemeineigentum

Gerade im Labor musste ich schon mehr als einmal feststellen, dass mit den immens teuren Geräten sehr ruppig umgegangen wird. Auch hier könnte man von einem „−dx-Phänomen“, da sich mit der Zeit die Achtung im Umgang mit dem Gerät abbaut, da sich die Leute nicht nur best practices voneinander abschauen, sondern auch worst practices. Der mangelhafte Umgang mit den Geräten wird nicht persönlich geahndet und selten ist jemand im Labor vorhanden, der die Zeit und auch die Lust hat andere Leute bei der Gerätebedienung zurechtzuweisen. Es ist daher auch möglich, dass ein gewisser selbstverstärkender Schlendrian einsetzt, der zu einem immer schlechteren Umgang mit dem Gerät führt.

Abgrenzung

Gerade in Bezug auf die Überwachungsgesetze fällt oft das Wort „Salamitaktik“. Beim +dx-Phänomen handelt es sich nicht um eine aktiv verfolgte Absicht, wie das bei der Salamitaktik der Fall ist. Es handelt sich eher um einen passiven Anpassungsvorgang, der dadurch zustande kommt, dass sich der einzelne in seinem Verhalten mit dem Verhalten in seiner Umgebung vergleicht und versucht dies abzugleichen.

Gegenmaßnahmen

Die hier beschriebenen Gegenmaßnahmen sind allesamt wenig praktikabel. Massenpsychologische Phänomene lassen sich unterdrücken, indem keine Massen mehr zugelassen werden. Das würde eine Beschränkung auf vielleicht fünf Personen bedeuten. Starke Persönlichkeiten, die sich nicht einfach mitreißen lassen, wären die andere Lösung. Aber nicht erst seit Ghost in The Shell: Stand Alone Complex oder Georg Schramm ist bekannt, dass unser aktuelles Wirtschaftssystem eben genau auf jene Leute aufbaut, die sich mitreißen lassen und immer den neuesten Dreck kaufen müssen. Der totale Überwachungsstaat ist dafür ebenfalls Lösung.